Noch immer im Genuss der sommerlichen Vibes bei täglichen 30 Grad hier an der türkischen Südküste schleicht sich dann doch langsam der Herbst ein. Es wird windig und es ist vor allem um sieben Uhr abends dunkel. Hier in meinem ‚Camp‘ in Side mit vielen türkischen Student*innen und anderen Wissenschaftlern ist es abends bei Dunkelheit auch schon dementsprechend still. Wenn man sich nicht täglich dem Touristen-Wahnsinn aussetzen möchte, bleibt Lesen im Wifi-freien Zimmer die beste Alternative. So bin ich froh, dass ich im letzten Abdruck noch das Buch 22 Bahnen von Caroline Wahl in meinen Koffer geworfen habe, das ich in den letzten Tagen verschlungen habe. Ich bin eine Spätzünderin bezüglich Buchtrends und so ist der Hype um dieses Buch, der bereits 2024 seinen Höhepunkt hatte, spurlos an mir vorüber gegangen. Es war vielmehr die Filmkritik zu der am 4. September in den Kinos gestarteten Buchverfilmung, die mich auf dieses Buch brachte.
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Mir hat das Buch gefallen, wobei ich denke, dass es vielen Leser*innen nicht gefällt, die vor allem anspruchsvolle Literatur erwarten. Das ist dieses Buch sicher nicht. Handlung und Sprache sind einfach, jung, modern und hip.
Worum geht es in diesem Buch:
Tilda ist eine junge Frau über zwanzig, die mit ihrer zehnjährigen Schwester Ida und ihrer alkoholkranken Mutter in einer Kleinstadt lebt. Um Geld zu verdienen, arbeitet sie in einem Supermarkt an der Kassa. Außerdem studiert sie Mathematik. Sie steht kurz vor ihrem Master und ist in diesem Fach auch so talentiert, dass ihr empfohlen wird, sich um ein Stipendium in Berlin zu bewerben. Das bringt sie ziemlich aus der Fassung, da sie sich liebevoll um ihre kleine Schwester Ida kümmert und unsicher ist, ob sie Ida mit der alkoholkranken Mutter alleine lassen kann. Von ihrer Clique sind die meisten nach dem Abitur bereits nach Berlin oder in andere Städte gezogen. In Rückblenden in die Kindheit und Jugend gibt Tilda immer wieder Einblicke in die Vergangenheit. Sie schildert ausführlich das Zusammensein mit ihrer besten Freundin Marlene, die aus einer konservativen Familie stammt, wonach sich Tilda immer gesehnt hat. Vor allem der Verlust ihres besten Freundes Ivan vor einigen Jahren macht Tilda noch immer schwer zu schaffen. Ruhe findet Tilda beim Schwimmen im Freibad, wo sie in diesem heißen Sommer täglich ihre 22 Bahnen zieht. Dort trifft sie auf den gutaussehenden Viktor, dem Bruder ihres verstorbenen Freundes Ivan, der nach dem Tod seiner Familie nach Hamburg gezogen ist und nun in die Kleinstadt zurück gekehrt ist, um das Haus seiner Eltern zu verkaufen.
Warum mir dieses Buch gefallen hat:
Caroline Wahl ist ebenfalls wie Tilda eine sehr junge Frau um die Dreißig und das spiegelt sich in ihrer Sprache wieder. Sie lässt die Protagonistin Tilda erzählen, wobei äußeres und inneres Geschehen geschickt miteinander verbunden sind. Die gesamte Dramaturgie zielt auf eine Zeitspanne während der heißen Sommermonate bis zum Herbstbeginn. Man fühlt beim Lesen die Langsamkeit, was gut auf die beschriebenen heißen Sommertage angepasst ist. Zwischen den Erzählsträngen sind einfache Dialoge eingebaut, die dem Geschehen noch mehr Nähe und Dabeisein vermitteln. Die aussichtslose Situation bzw. das Gefangensein in Tildas Alltag wird durch das stete Wiederholen von Abläufen, wie das Schwimmen, die Arbeit an der Supermarktkassa, der Weg zum Haus, die schlafende Mutter versinnbildlicht.
Was ich nicht teile:
Nach vielen Kritiken wird Caroline Wahl, die nach mehreren Medienberichten aus wohlhabendem Elternhaus stammen soll, vorgeworfen, die prekäre Situation von Tilda falsch eingesetzt zu haben. Es wird in den Rezensionen und Kritiken oft von ‚Armut‘ gesprochen, die hier falsch dargestellt worden sei. Dem kann ich nicht zustimmen. Tilda schildert in ihren Rückblicken sogar sehr gut, wie ihre Familie in die prekäre Situation gelangte. Der Vater, ein Literaturprofessor, hat sich aus dem Staub gemacht und eine neue Familie gegründet, wodurch die Mutter, die ihre Masterarbeit nie abgeschlossen hat, in die Alkoholsucht geriet. Das Verhältnis zur Mutter ist sehr realistisch dargestellt, indem sie zwar öfter als ‚Monster‘ bezeichnet wird, jedoch kein Zweifel daran besteht, dass sie mehr oder weniger mitgezogen werden muss. Als Sozialdrama würde ich die Geschichte jedenfalls nicht bezeichnen.
Fazit:
Caroline Wahl ist mit 22 Bahnen eine unterhaltsame Erzählung gelungen. Es sind die Zwischentöne, die die Geschichte tragen, von den heißen Sommertagen weg bis in den Herbst hinein, feinfühlig, anrührend und ganz schön reif.
Frau Krautundrübe