Als wir endlich das Auto gepackt haben und losfahren, fällt es mir erstmals schwer Haus und Garten zu verlassen, was ich auf die lange Corona-Zeit schiebe, wo das Daheim zu einem vor der ganzen Welt geschützten Ort wurde. Ich lese dem das Auto lenkenden Herrn Krautundrübe die Zeitung vor, im Radio redet Melissa Naschenweng, was den Pubertier schnell veranlasst, seine Airpods in die Ohren zu stecken und von mir Hotspot zu schnorren. Die Fahrt bis zur Grenze nach Italien kommt mir ewig vor, dann endlich im Kanaltal angekommen verfolgen wir nochmals die Alpe-Adria-Radroute, die wir vor wenigen Jahren geradelt sind, bis zur Raststation in Campiolo, wo wir in alter Tradition den ersten italienischen Cappuccino und ein Croissant zu uns nehmen. Wir beraten kurz, dass wir am Meer übernachten wollen, um den sonnigen Tag für einen Spaziergang zu nützen. Die fast autofreie Fahrt ändert sich schnell, als wir in Richtung Venedig unterwegs sind. Dass die italienischen Autofahrer:innen eine eigene Klasse sind, zeigt sich in ihrem eleganten Fahrstil, wenn sie sich lautlos wie Katzen nähern, ein kurzes Anblinken reicht, um zu wissen, dass man auf die langsame Fahrspur wechseln soll, damit das Auto fast lautlos vorbeigleiten kann.
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Wir fahren weiter nach Florenz. Wir stellen fest, dass wir vor einigen Jahren auf der Fahrt nach Rom in Florenz halt machten, sich die Stadt uns damals aber nicht wirklich erschloss. In den 1980er Jahren war ich mit den Krautundrüben-Eltern mehrmals in Florenz. Muss man heutzutage bereits Wochen vorher ein Online-Ticket für einen Museumsbesuch in Florenz buchen, so war es damals möglich, alle Museen sehr einfach zu besuchen, was wir auch taten. Ich wurde in jedem Fall ein Florenz-Fan, die Lektüre der Michelangelo-Biographie – oder besser des biographischen Romans – von Irving Stone machte mich schließlich zu einem bedingungslosen Michelangelo-Fan. Ich erzähle dem Pubertier von meiner Renaissancebegeisterung, als ich im selben Alter war wie er, und dass Florenz eine der schönsten Städte der Welt ist, um ihn bei Laune zu halten. Wir steigen am Arno aus und blicken in Richtung Dom vom Süden kommend. Die charakteristische Kuppel kommt mir diesmal viel zu groß vor. Wir gehen über Santa Croce durch die Via della Ninna zur Piazza della Signoria, wo das Getümmel eindeutig am stärksten ist. Ich blicke rechts hoch zur berühmten Replik des David von Michelangelo. Meine beiden Mitreisenden zeigen sich wenig beeindruckt. Wir gehen in den Palazzo Vecchio und ich lese vor, dass in diesem Gebäude seit 1314 das Parlament tagte, das Gebäude aber auch als Schlafstätte für die Abgeordneten diente, die nach Schutz vor Übergriffen des aufgebrachten Volkes während ihrer Amtszeit dort wohnten. Wir betreten den Innenhof und sehen an den Wänden die Fresken österreichischer Städte, was mich sehr verwundert. Ich recherchiere, dass es sich um die Städte der Habsburgermonarchie, die im Jahre 1565 von Giorgio Vasari für die Hochzeitsfeier von Francesco de’Medici mit Erzherzogin Johanna von Österreich, der Schwester von Kaiser Maximillian II., angefertigt wurden. Wir stehen lange vor dem Grätz-Fresko und überlegen, von welcher Perspektive unsere Heimatstadt hier dargestellt ist.
Wir schlendern durch enge Nebengassen weiter in Richtung zum Dom. Obwohl mich diesmal die unverhältnismäßigen Proportionen des Gebäudes zu den übrigen Häusern und dem Nichtvorhandensein eines Platzes stören, beeindruckt das Ensemble mit Kirche, Campanile und Baptisterium trotzdem. Vor allem die Kuppel begeistert mich diesmal, sie wirkt irgendwie perfekt ausgeführt. Brunelleschi hatte mehrere Kuppelmodelle vorgelegt. Letztlich wurde eine 107 m hohe Kuppel mit einem Durchmesser von 45 m nach 16 Jahren realisiert. Ich lese nach, dass die Kuppel aus zwei Schalen mit einer besonderen Rippenkonstellation – die äußeren Rippen sind in dem charakteristischen Weiß gehalten – errichtet wurde und sich so selbst trägt ohne Lehrgerüst.
Wir besuchen an einem anderen Tag auch die Kirche Santa Croce mit vielen Grabmälern, darunter das von Michelangelo. Ich bin begeistert von den Figuren auf den Gemälden in den Seitenkapellen. Ich erinnere mich noch an die Stelle in der Romanbiographie von Michelangelo, die mich als 15-jährige besonders beeindruckt hat, dass nämlich nackte Körper zu Beginn der Renaissance völlig unbekannt waren, sodass Michelangelo verbotenerweise an Leichen Körperstudien durchführte. Ich weiß heute natürlich ob der Unwissenschaftlichkeit biographischer Romane Bescheid und bin dem auch nie mehr nachgegangen, aber diese exakte Darstellung von Muskeln und unterschiedlicher Gesichtsmimiken musste einer intensiven Körperstudie voran gegangen sein.
Als wir über den Borgo dei Greci wieder zur Piazza della Signoria kommen, lockt mich die Loggia dei Lanci mit ihren Statuen. Ich werfe eher zufällig einen Blick auf die David-Replik und stocke wieder ob der Proportionen, die mir an dieser Figur außerordentlich unverhältnismäßig erscheinen. Sind hier nicht die Hände und der Kopf viel zu groß geraten? Mit einem letzten Blick auf den Raub der Sabinerinnen von Giovanni da Bologna in der Loggia dei Lanci verlasse ich wieder voll Zweifel die Stadt, nehme mir aber vor, zu Hause zu recherchieren, was es mit den Renaissancestatuen und ihren Proportionen tatsächlich auf sich hat.
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Der erste Arbeitstag nach den Osterferien sollte ruhig beginnen. Die Kollegenschaft ist tatsächlich noch im Ferienmodus, ich gehe durch die Gipsabguss-Sammlung der Universität, die ich jeden Arbeitstag rasch durchschreite, um in mein Büro zu gelangen. Diesmal bleibe ich vor dem Doryphoros des Polyklet, einer Statue aus dem 5. Jahrhundert vor Christus stehen, lasse meine Blicke schweifen und weiß nun warum mich der David in Florenz – von dem ich allerdings nur die Replik auf der Piazza sah, so irritierte. Diese antiken griechischen Statuen aus der klassischen und hellenistischen Zeit, die mich täglich in ihrer absoluten Ruhe und göttlichen Schönheit willkommen heißen, meinen Blick auf das Absolute lenken und keine kleine Abweichung verzeihen. Michelangelo stellt seinen David wohl als „Menschen“ dar, kurz davor aktiv in das Geschehen einzutreten, indem er die Steinschleuder positioniert, bereit gegen das weltlich Große zu kämpfen, geschaffen von Michelangelo mit all seinen menschlichen Zügen und Beschwerlichkeiten.
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Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank, um ein Glas kaltes Wasser nachzufüllen. Mein Blick fällt auf eine Postkarte, die an der Kühlschranktür pinnt und den Hermes des Praxiteles* zeigt. Ich seufze und bin gerade fest überzeugt, dass hier wohl die Götter am Werk waren.
(* Der Hermes des Praxiteles mit dem Dionysosknaben auf dem Arm stammt aus 4. Jahrhundert vor Christus und steht im Museum von Olympia in Griechenland.)
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Unser Aufenthalt in Florenz war auch termingebunden, da wir Tickets für das Konzert von Eros Ramazzotti im Nelson-Mandela-Stadion in Florenz hatten. Ich würde mich keinesfalls als typischen Eros-Ramazzotti-Fan bezeichnen, man wird auch keine Ramazzotti-Tonträger im Krautundrübenhaus finden, trotzdem ist Eros Ramazzotti oft mein Alltagsretter, wenn er zum Beispiel „Adesso tu“ aus dem Radio trällert und meine Welt in diesen Minuten absolut in Ordnung ist. Das Konzert war wie erwartet ein Feuerwerk an Hits und viel Feel-Good-Stimmung. Auf einer großen Leinwand war auch immer eine Nahaufnahme des singenden Eros mit geschlossenen Augen und gekräuselten Lippen zu sehen. Mein Blick fiel auf das Bäuchlein von Eros und die Latexhose mit den im Verhältnis dazu dünnen Beinchen und schlapperndem Hosenpo, und ich stelle fest, dass die Proportionen zum kleinen Kopf, dem Bauch und dem nicht vorhandenen Po unverhältnismäßig sind, oder ist das nur meinem kritischen Renaissanceauge geschuldet?
Frau Krautundrübe