Es liegen mehrere unentschlossene Tage hinter mir, die auch durch das Kranksein von Herrn Krautundrübe, der durch eine schwere Bronchitis außer Gefecht gesetzt ist, noch stärker als unentschlossen wahrgenommen werden. Insgesamt ist es aber sehr ruhig. Die Krautundrüben-Tochter bringt mit ihrem Kommen ein wenig Tempo in diese Tage. Sie trifft noch die letzten Vorbereitungen für den bevorstehenden Urlaub. Ich genieße die lauten Stimmen und die Fröhlichkeit und den ausgelassenen Abend mit den Krautundrüben-Kindern und ihren Freunden. Die Krautundrüben-Tochter ist im Reisefieber und ich erkenne mich in ihr. Sie fahren am nächsten Morgen los und die Stille erdrückt mich und die Sehnsucht des Wegfahrens hängt den ganzen Tag wie eine schwere Wolke über mir. Herr Krautundrübe ist richtig krank und muss sich schonen. Ich bin trotzdem ungeduldig, da er den Garten nicht wie vorgesehen pflegen kann, lasse es mir selbstverständlich nicht anmerken und belasse es bei gespielt beiläufigen Diskussionen, ob man nämlich die Stängel beim Mangold mitkocht oder nicht, ob die immer brauner werdenden Tomaten die Tomatenrostmilbe oder die Braunfäule haben, über die Unterschiede von Majoran und Origano diskutieren wir, den Obstbaumschnitt und die Birkenblätter im Swimmingpool. Ich arbeite meine Unzufriedenheit daran ab, bis ich erkenne, dass meine Unlust und Misslaunigkeit nur durch eine ausgiebige Radtour gebremst werden kann.
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Ich wähle eine Radstrecke, die ich gut kenne, aber die ich diesmal von der entgegengesetzten Richtung fahre, was mit einem sehr zähen Anstieg verbunden ist. Ich quäle mich in der einsetzenden Mittagshitze bei einem langen, steten Anstieg auf den Berg, genieße den Fahrtwind bei der kurzen und steilen Abfahrt und kehre sehr zufrieden nach Hause zurück. Erleichtert stelle ich fest, dass dieses Wochenende keine Haushaltspflichten wie Kochen oder Wäschewaschen anstehen, da die Krautundrüben-Söhne auswärts sind, sodass ich mich zufrieden müde vom Radfahren mit meinem Buch in eine bequeme Liege in den Garten lege.
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Ich rücke meinen Liegestuhl in den Halbschatten und fasse den Vorsatz, dieses Buch von Judith Holofernes mit dem Titel „Die Träume anderer Leute“ endlich auszulesen. Ich habe das Buch bereits vor einigen Wochen begonnen, bin aber beim Lesen nicht wirklich weiter gekommen, obwohl es mich andererseits auch nicht los ließ. Es geht um das Leben der Musikerin Judith Holoferenes, die als Sängerin und Frontfrau Anfang der 2000er-Jahre mit ihrer Band „Wir sind Helden“ großen Erfolg hatte, in dieser „Erfolgszeit“ zwei Kinder bekam, bald danach die Band auflöste, eine Solokarriere plante, die aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Musikindustrie, des Managements und der Künstlerin so nicht aufging und mit dem US-amerikanischen Social-Payment-Service-Anbieter Patreon, wo Künstler und Kreative von ihren Fans regelmäßig einen selbstbestimmten Geldbetrag erhalten können, ihre Projekte realisieren möchte. Es geht hauptsächlich um die Selbstfindung einer Frau, die eigentlich mit 35+ Jahren, verheiratet, 2 Kinder, immer kränkelnd und vielleicht ein paar Kilos zuviel nicht mehr dem Ideal der Musikindustrie entspricht und (sic!) vor allem auch nicht entsprechen möchte. Ich lese jede Seite dieses Buches aufmerksam und bin gefangen vom Schicksal dieser Judith Holofernes, dem ehemaligen sehr attraktiven Indie-Popsternchen, die irgendwie zur mit sich zufriedenen Frustnudel mutiert. Man muss sich daran gewöhnen, dass eine erfolgreiche Musikerin, die für eine ganze Generation steht, eigentlich ein sehr normales Leben führt. Sie zeigt sehr eindringlich, wie sie sich langsam aus den kommerziellen Zwängen und der Enge des Musikbetriebs befreit hat. Wie sie zu der Künstlerin wurde, die sie so lange sein wollte – und damit ihr Leben zurückbekam.
Ein Buch der leisen Töne, stummen Schreie und ganz viel Licht, das ein lang geträumtes Märchen wahr werden lässt. Hier erzählt eine einfühlsame Judith Holofernes von ganz persönlichen Wunden, Narben und Erkenntnissen, die so wahrscheinlich niemand hinter der witzig-schrägen Fassade der früheren „Heldin“ vermutet hätte. (Perlentaucher).
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Für den Sonntag ist ein heißer Sommertag angekündigt. Nach spätem Aufstehen, ausgiebigem Frühstück und sommerlicher Hitze bereits am Vormittag verzichte ich auf meine geplante Radtour und nehme mir ein weiteres Buch vor, dass bereits länger auf meinem Nachtkästchen liegt. „Die Wut, die bleibt“ von Mareike Fallwickl wird in diesen Tagen bei den Salzburger Festspielen als Theaterstück uraufgeführt, weshalb die Autorin mehrmals interviewt wird und wo sie bereits den geplanten Film des Romanstoffs mit einer bekannten Schauspielerin ankündigt. Für mich ist es deshalb Zeit, das Buch endlich auszulesen. Der Überraschungsmoment, als die Hauptperson Helene nach der Feststellung ihres Mannes, dass dem Essen Salz fehlt, auf den Balkon geht und sich vom dritten Stock in die Tiefe stürzt, wird bereits auf der ersten Seite des Buches ausgespielt. Helene ist Mutter von drei Kindern, davon ist die älteste Tochter Lola bereits 15 Jahre alt und die beiden Buben noch klein bis sehr klein. Ihr Ehemann Johannes arbeitet als Architekt und sie selbst ist hauptsächlich mit Hausarbeit und Kindern beschäftigt. Auch dieser entscheidende Abend läuft ab wie immer, die ganze Familie sitzt zum Essen am Tisch, es gibt Erdäpfel mit Butter, die Kinder schreien, der Vater verlangt nach Salz, als Helene auf den Balkon tritt, um sich aus dem 3. Stock zu werfen. In weiterer Folge geht es um Helenes Freundin Sarah, einer erfolgreichen, kinderlosen Krimiautorin und der 15-jährigen Tochter Lola, die sich immer mehr zu einer radikalen Feministin entwickelt. Sarah kümmert sich vor allem um die beiden kleinen Buben, die schnell Vertrauen zu ihr fassen und versucht einen Zugang zur 15-jährigen Lola zu bekommen. Sie gleitet ebenfalls immer weiter in die Care-Situation ab, während der Vater der Kinder, Johannes, sich immer weniger dafür zuständig fühlt. Die beiden Frauen, der Ehemann und die Kinder versuchen auf unterschiedliche Weise ihre Trauer um Helene zu verarbeiten. Es ist nicht nur ein Buch über Frauen, die sich an der Kinder- und Haushaltsarbeit aufreiben, es ist ein Abbild unserer Zeit. Hinzu kommt nämlich die gesellschaftliche Komponente mit Corona, den Lockdowns und dem Homeschooling, die hier auch zur Konsequenz von Helenes Handlung beiträgt, da vor allem Frauen die stillen (!!!) Leidtragenden dieser Zeit waren. Das Buch ist sehr stark, weckt sehr viele Emotionen und sollte vor allem auch von Männern gelesen werden. Mehr wird hier nicht verraten.
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Beide Bücher bewegen und bedrücken mich sehr. Es ändert leider nichts am Leid und der Belastung vieler Frauen und Mütter.
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Judith Holofernes und ihrem nicht geglückten Comebackversuch mit Liebe Teil 2: Jetzt Erst Recht
Frau Krautundrübe