Die Arbeitswoche ist schnell vergangen. Die Aufregung um den Cyberangriff auf die IT-Systeme der Uni, von dem sowohl Bedienstete als auch alle Studierenden betroffen sind, hält uns noch in Atem. Multifaktoren Zugänge, vpn Clients und Token sollen vorerst die Lösung für einen sicheren Zugang in alle Systeme sein. Ich fahre meinen PC herunter, staple die Bücher und drapiere meine Unterlagen so, dass ich zu Wochenbeginn wieder nahtlos an die Arbeit anschließen kann. Mein Blick fällt auf ein Foto, das über meinem Schreibtisch hängt. Es zeigt mich und meine Kolleginnen beim Essen und Teetrinken im Kreise einer türkischen Familie und wurde 2003 in Büyüknefes im Hochland von Anatolien in der Provinz Yozgat gemacht.
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Ich denke wieder an das große Leid, das das Erdbeben in der Südosttürkei und in Nordsyrien verursacht hat. Die Türkei mit ihren Menschen hat mich bereits in den späten 1980er Jahren gepackt, als ich nach der Matura eine ausgiebige Reise in und durch die Türkei machte. Es begann wenige Minuten nach Beginn unserer Zugfahrt nach Istanbul bei Betreten unseres Zugabteils, das wir zwei Tage mit einer türkischen Familie teilten. In der Mitte des Abteils stand eine Kiste aus Karton, auf der ein Teekessel, ein Gaskocher und ein Topf standen. Es gab Kinder, freundliche Erwachsene, die auf Türkisch auf uns einredeten und immer wieder herzlich lachten. So kam es, dass ich in diesem Zugabteil irgendwo vor Belgrad meinen ersten Cay zu trinken bekam. Über Sofia ging es schließlich nach Istanbul. Ich meine für die 1270 km mit dem Zug zwei Nächte gefahren zu sein, bin mir aber nicht sicher. Den Bahnhof in Istanbul habe ich mir jedenfalls größer vorgestellt. Wir besichtigten Istanbul, fuhren dann mit dem Bus weiter nach Bursa, wo ich mich an einen unvergesslichen Besuch in der Frauenzone in einem Hamam erinnere. Wie der genaue weitere Reiseverlauf war, daran erinnere ich mich nicht mehr. Jedenfalls wurde ich sehr krank und die Weiterreise war wegen meiner körperlichen Schwäche sehr anstrengend, sodass wir an die Südküste ans Meer reisten, damit ich mich dort erholen konnte. Wir kamen in Antalya an, das damals noch eine Kleinstadt war, besuchten eher zufällig den heute vom Massentourismus “entwerteten” Strand von Ölüdeniz. Von dort ging es noch weiter in den Osten. Ich kam nach mehreren Wochen mit dem überwältigenden Gefühl nach Hause, in viele freundliche Gesichter geblickt zu haben, dass mir viele lustige Begegnungen einfach passierten und, dass ich wiederkommen wollte.
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Einige Jahre später kam ich im beruflichen Kontext wieder in die Türkei. Diesmal blieb ich stationär im Hochland von Anatolien in Büyüknefes in der Provinz Yozgat. In diesem Dorf auf 1200 m Höhe gibt es nichts. Keine Gastronomie, kein Geschäft, kein Hotel! Untergebracht waren wir während der ersten Kampagne in der örtlichen Schule in einem Klassenzimmer, das mit Feldbetten ausgestattet war. Wir hatten auch fließendes Kaltwasser und Wassertoiletten, zum Essen ging es zu einer türkischen Familie. Nicht nur die Gastfreundschaft der Menschen war überwältigend, auch wie sie ihr Leben als Selbstversorger sowohl im Familienverband als auch in der Gemeinde bewältigten, ließ uns staunen. Als der Flieger beim Heimflug im Landeflug über die Vorstadt der Hauptstadt kreiste und mein Blick auf die regelmäßigen Häuserzeilen mit gestutzten Hecken und Pools fiel, wurde ich traurig. Ich fuhr aber noch einige Male nach Büyüknefes, immer wieder war ich überwältigt von der Lebensweise, der Herzlichkeit, der Gastfreundschaft sowie dem Durchhaltevermögen der Menschen.
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Je öfter ich nach Büyüknefes kam, umso besser wurde auch der Einblick in die Lebensweise der Zentralanatolier:innen, die großteils von turkmenischen Nomaden abstammten. Die Stadt Yozgat ist eine relativ junge Stadt mit ca. 100.000 Einwohnern. Zum Bezirk Yozgat gehören an die 100 Dörfer, die ungefähr 100 bis 150 Einwohner zählen, wie auch mein Dorf Büyüknefes. Die Dörfer sind familiär organisiert, haben aber einen “Muhtar”, einen Gemeindevorsteher und eine Krankenstation, wobei der Arzt aus Yozgat anreisen muss (ca. 1,5 Stunden Fahrt). Die Häuser bestehen aus Lehmziegeln, Weidengeflechte oder Holz werden ebenfalls für Geländer oder Balkone verwendet. Die Häuser zeigen einen einheitlichen Aufbau, indem im unteren Bereich die Wirtschaftsräume sind und auch der Stall für den Esel oder die Kuh und im oberen Geschoß, das über (oft waghalsige) Stiegenkonstruktionen erreicht wird, befinden sich die Wohnräume. Fließendes Wasser gibt es nicht, das muss meistens in Kanistern vom Dorfbrunnen abgefüllt werden. Die Toilette befindet sich in Form eines “Plumpsklos” im Hof. Es gibt einen Traktor für alle Bauern, die Frauen backen im Kollektiv die Brotfladen. Der Ernteertrag ist überschaubar. Vor allem jungen Männern ist die Mangelernährung anzusehen, indem sie oft rachitisch sind. Hinzu kommt, dass Verheiratungen oft innerhalb der Familie durchgeführt werden, sodass Cousin und Cousine miteinander Kinder bekommen. Kurdische Mädchen und Jungen kommen als Arbeitskräfte in die anatolischen Familien und werden oft schlecht behandelt. Unterdrückung der Frauen durch Männer konnte ich nicht beobachten. In ihrem Haus war die Frau die Herrin, die Älteren wurden in eine Ecke gesetzt und mussten sich ruhig verhalten, die unverheiratete Tochter wurde wie ein Schatz und wie eine Prinzessin behandelt, die im Haus lebenden Schwiegertöchter hatten es hingegen schwerer. Die Mädchen wurden oft mit 16 Jahren verheiratet und kamen sofort in das Haus des Ehemannes (der oft auswärts arbeitet und nur zum Wochenende nach Hause kommt), wo sie sich vor der Schwiegermutter beweisen mussten. Die Familien leben hauptsächlich von dem, was gerade wächst. Ein Baum mit Walnüssen bietet wertvolle Vorräte für den Winter.
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Da die Lebensmittel aber oft nicht für alle reichen, wandern die jungen Menschen in die Städte ab. In den letzten 40 Jahren wuchsen die größeren türkischen Städten um 1-2 Millionen an Einwohner:innen, die Wohnraum benötigen – vornehmlich in einem Erdbebengebiet, wo die Gefahr zu hundert Prozent gegeben ist, dass das Haus bei einem Erdbeben zusammenknickt, wie ein Kartenhaus.
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Seit mehreren Jahrtausenden ist dieses Land besiedelt. Indem sich die Menschen arrangierten, entstanden zu unterschiedlichen Zeiten kulturelle Höchstleistungen, die bis heute erhalten blieben. Die Menschen haben sich nie von den Naturgewalten und Naturkatastrophen klein kriegen lassen. Mögen sie auch diesmal nach tapfer erduldetem Leid nach dem fatalen Erdbeben vom Montag verbunden mit Verlusten und der Trauer um tote Familienmitglieder und dem menschlichen und wirtschaftlichen Ruin, wieder Hoffnung schöpfen. Ich bin in Gedanken bei ihnen!