Erinnerungen in vollen Zügen

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Dass sich meine Offline-Tage dem Ende zuneigen, spüre ich an meinen müden Augen, die wieder durch intensives Arbeiten am Bildschirm beansprucht sind. Gleichzeitig naht das Ende des Sommers. Das abendliche Bloggen auf der Terrasse fühlt sich bereits ungemütlich an. Was wird von diesem Sommer in Erinnerung bleiben? Die gewohnte Euphorie wollte sich schon im Laufe der Sommermonate nicht einstellen. Der Krieg in der Ukraine, die Energiekrise, die Teuerung, die vergangenen Coronajahre und vor allem der Klimawandel fordern Strategien und Lösungen. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen werden immer komplexer, und weil wir das alles nicht mehr nachvollziehen können, werden wir unermüdlich durch das Es-Geht-Uns-Gut-Wohlstandsfeeling gefügig gemacht. Wie lange wird das noch funktionieren? Eifrig bemüht sich die Regierung um Kompensation, indem sie einen 500 € Klimabonus für alle möglichen in Österreich lebenden Personen beschließt. Eh schön in Anbetracht der wirklich gestiegenen Kosten in allen Bereichen! Aber wird das reichen?

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Gebeutelt von vorangegangenen Unwettern mit beträchtlichem Hagelschaden ist die Lust für mehrere Wochen das Haus zu verlassen, begrenzt. Das Reisefieber will sich nicht einstellen. Mehrere Tage verbringe ich in den Hohen Tauern, die Landschaft ist herzzerreißend schön, aber der Gletscherschwund ist gerade in diesem Sommer katastrophal und führt uns die ganze Klimamisere vor Augen.  Auch die Berichte aus dem Süden des Landes deprimieren! Der Neusiedlersee und die benachbarten Lacken trocknen immer weiter aus. Die Fahrt an die Adria entwickelt sich zu einer einzigen Autokolonne. Im Urlaubsort selbst ist die Stimmung allerdings durchaus entspannt. Bei der Rückfahrt gibt es wieder zahlreiche Staus. Zu Hause angekommen stoße ich auf eine TV-Dokumentation über die grünen Lügen der Modeindustrie. Dass es sich dabei um eine Werbelinie handelt und sich in die restlichen Greenwashing-Aktivitäten von Firmen und Konzernen einordnen lässt, ist ziemlich leicht durchschaubar.

Was von der Pasterze übrig bleibt
Aus dem Burgenland

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Während ich noch überlege, wie ich aus meiner Klimadepression heraus komme und so nach meiner Offline-Zeit durch meine Mails scrolle,  verbleibe bei einem Posteingang von 10 nach 8 von Zeit Online mit dem Titel Das sanfte Losfahren. Ich lese die ersten Zeilen von Michaela Maria Müller: ‚‚Im Zug durch Europa entfaltet sich die einstige Idee der friedlichen Einigung. Doch auch die Krisen der Gegenwart werden sichtbar – von Klimawandel bis Faschismus.“  Interrail wurde 1972 gegründet und feiert heuer seinen 50. Geburtstag. Es gibt einen 50 % Rabatt auf das Ticket.

Nächte in Zügen und auf Bahnhöfen, mit dem Tramperrucksack durch fremde Städte streunen, Zufallsbekanntschaften aus allen möglichen Ländern: Solche Erinnerungen verbinden seit 50 Jahren Generationen von Menschen, die in ihrer Jugend mit dem Interrail-Pass Europa erkunden konnten. Das Programm, das ursprünglich eine einmalige Aktion sein hätte sollen, wurde zur Erfolgsgeschichte – und zum frühen Symbol für ein Europa ohne Grenzen. (orf.at vom 13. August 2022)

Mein erster Urlaub ohne Eltern führte mich mit Interrail bis nach Portugal. Nach meinem ersten Ferialjob in einer Konditorei hinter der Eistheke konnte ich mir das 1.200 Schilling teure Ticket leisten. Der Rucksack wurde sparsamst gepackt, die neue grüne Isomatte an den dafür gedachten Riemen am Tramperrucksack befestigt, Schlafsack, Gaskocher und Packerlsuppen benötigten den meisten Platz. Der Plan, möglichst viele Fahrten während der Nacht zu absolvieren, ging nicht immer auf, wollte man der Flut an jungen Interrailreisenden durch „Supplementos“ bei Nachtfahrten Einhalt gebieten. So verbrachten wir viele Nächte auf Bahnhöfen oder Stränden. Die Zugfahrten vertrieben wir uns mit Lesen. Ich erinnere mich, zwischen Porto und San Sebastian von Alice Miller Du sollst nicht merken gelesen zu haben, nachdem ich an der portugiesischen Westküste die Briefe an Felice von Frank Kafka gelesen habe. Unvergesslich war der Schock in Barcelona, als mir mein Geld aus der Geldbörse gestohlen wurde, als mir nach Hungertagen mein ersehntes Pan bagnat in St. Raphael aus der Hand fiel und die Fischvergiftung in Portugal. Wie klein ‚unser‘ Europa damals war! So trafen wir bei der Heimreise in Mailand im Zug ausgerechnet meine Schulkollegin mit ihrem Freund. Wir verbrachten noch eine gemeinsame Nacht in Venedig am Bahnhof, weil der Zug dort endete, um am nächsten Tag nach Hause zu fahren. Es gab kein Handy und kein Internet. Die Eltern erhielten eine Postkarte und es ging sich ein einziger Anruf von der Telefonzelle in einem ganzen Monat aus. Dafür gab es nach der Reise viel zu erzählen. Das war Freiheit in vollen Zügen, wie es heute kaum vorstellbar ist.

Irgendwo an der Antlantikküste

Ich wage zu behaupten, dass das 1972 eingeführte Interrail-Ticket viel zu einem friedlichen und gemeinsam handelnden Europa beigetragen hat. Das Interrail-Ticket-System ist in den Jahren komplizierter geworden, indem es einen Global Pass gibt, einzelne Länderpässe sowie eine gestaffelte Gültigkeitsdauer. Es gibt unterschiedliche Preisklassen, aber prinzipiell kostet ein Monatsticket je nach Alter zwischen 500 und 700 Euro. Die größte Konkurrenz des Zugfahrens sind die Billigflieger und natürlich das Auto. Aber bei den steigenden Flugpreisen und dem Chaos auf den Flughäfen zu Urlaubsdestinationen, die man ohnehin schon kennt, den hohen Spritpreisen, und auch wenn man um Alternativen bemüht ist, trifft das Interrail-Ticket womöglich erneut einen Nerv – und schafft vielleicht gerade deswegen wieder „Erinnerungen in vollen Zügen“.

Wirklich? Ernst Molden und Ursula Strauss: Ollas is hi

 

Frau Krautundrübe

 

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