Nach einem Anflug von Tristesse

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Herr Krautundrübe ist traditionell am zweiten Augustwochenende auswärts, die Krautundrüben-Söhne sind ebenfalls weg. Ich bin erschöpft zurück geblieben nach dem Durcheinander bei der Arbeit, der Abfahrt des Pubertiers und weiterem störenden Alltagskram. Der Sommer ist zurück mit heißen Temperaturen am Tag, jedoch kühlen Nächten. Der Herbst kündigt sich an, vereinzelt verfärbt sich bereits das Laub.

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Der letzte Arbeitstag verläuft turbulent, wie auch die vorletzten und die vorvorletzten Arbeitstage. Ich frage mich, wie ich den bevorstehenden Urlaub genießen können werde und fasse gleichzeitig eine Strategie nach dem Motto Schwamm-drüber, indem  ich den an meinem Ärger beteiligten und meinen Ärger verursachenden Kolleg:innen ein Mail schicke, dass ich mich auf die gemeinsame Projektarbeit nach meinem Urlaub freue. Die Erleichterung ist an den Antworten zu spüren, ich belasse es vorerst dabei.

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Nach einem Anflug von Tristesse nach einem halben Tag des Alleinseins fasse ich Pläne für den nächsten Tag. Ich nehme frühmorgens den Zug mitsamt Fahrrad und fahre in meine alte Heimatstadt. Während der Fahrt bleibt Zeit im Schweden-Reiseführer zu lesen, was mich aber nicht weiter bringt. Ich habe keine Vorstellung von Schweden, muss es auf mich zukommen lassen. Jedenfalls freue ich mich darauf und bin begierig, ein neues Land zu bereisen. Ich lese nochmals die Nachricht vom Pubertier, der mit seinem Interrail-Ticket durch Europa unterwegs ist, sehe beim Blick aus dem Fenster vertraute Landschaften und Orte an mir vorbeiziehen, die mich irgendwie trösten.

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Obwohl mir das Einfahren zum Bahnhof in diesem Moment fremd ist, weil mir die Gegend dort auch nicht so geläufig ist, überkommt mich beim Ankommen und beim Betreten der Bahnhofshalle meiner Heimatstadt Rührung. Von dieser Bahnhofshalle aus, sind wir damals vor Jahren zu unserer Interrail-Reise aufgebrochen. Unvergessen sind mir die Ereignisse, als in Barcelona meine Traveller Cheques gestohlen wurden, vor lauter Hunger mir das Pain Bagnat – in Avignon? – aus der Hand fiel, mich in Portugal eine Fischvergiftung durch aufgewärmte Sardinendosen heimsuchte und während der langen Zugfahrten durch Spanien Briefe an Felice von Franz Kafka und Du sollst nicht merken von Alice Miller gelesen wurden. Die einzige Verbindung nach Hause stellten die Telefonzellen dar, aber auch nur, wenn man genügend Kleingeld in der damaligen Landeswährung zur Verfügung hatte. Der Pubertier meldet sich durchaus auf meine Nachrichten. Die Airbnbs und die Hostels sind bereits ausgesucht, in manchen Ländern wünschen die Hostels aber Vollmachtserklärungen der Eltern von unter 18-Jährigen, sowie eine Kopie des Reisepasses eines Erziehungsberechtigten. Auf meinen Vorschlag, doch ab und zu am Strand zu übernachten, um Geld zu sparen und die Bürokratie zu umgehen, erklärt mir der Pubertier, dass wir nicht mehr in den 1990ern leben ( – es war eigentlich in den 1980ern…)

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Ich nehme den Weg durch die Stadt zu meinem Elternhaus. Nach der Ankunft der Krautundrüben-Schwester, aus der entgegengesetzten Richtung angereist, machen wir uns auf zu einer einst wohlbekannten Radtour. Wir tauchen kurz in die Vergangenheit ein, erzählen von damals, erzählen uns mit den zufälligen Tischnachbarn und genießen die schöne Landschaft. Der Tag verfliegt und ich finde mich wieder am Bahnhof ein, nehme mit meinem Rad wieder den Lift, der in der Unterführung endet, von wo aus zu jedem Bahnsteig wieder ein Lift führt. Es gibt viele Reisende, die auf einen Intercity warten, aber auch viele junge Menschen, die den Regionalzug bzw. die S-Bahn zum Nachtleben in die benachbarte Stadt nehmen. Mein Blick bleibt an einer jungen Familie hängen. Ein junger Mann mit einer langen, schwarzen Lockenfrisur, seine schmächtige Statur fällt mir auf, legt seinen Arm um einen kleinen Buben mit ebensolchen langen, schwarzen Locken. Die junge Frau im traditionellen muslimischen Gewand schaukelt den Kinderwagen, bis sie ein Baby im rosa Gewand dem lockigen Mann übergibt, der das Baby herzt. Die junge Familie wirkt sehr verbunden. Ich denke, dass sie syrischer Abstammung sein könnten, da ein bekannter Syrer dem Mann hier am Bahnsteig sehr ähnelt. Während meiner Überlegungen scheint die Stimmung der Familie zu kippen. Nach der Durchsage zur Ankündigung des Intercity-Zuges scheint die Familie von einem Abschiedsschmerz überwältigt zu werden. Das Paar küsst sich mehrmals, die Frau beginnt verhalten zu weinen, der kleine Bub beginnt verhalten zu weinen, während das kleine Mädchen lustig strampelnd das Ausmaß dieses Abschieds noch nicht ahnt. Der Zug fährt ab, die Zurückgebliebenen winken, die Frau weint still, sie nimmt den kleinen Buben in den Arm, tröstet ihn, er leidet sichtbar. Die Frau blickt auf, unsere Blicke treffen sich. In diesen Blicken finden sich die Sentimentalitäten eines ganzen Tages wieder. Ich versuche zu lächeln, gerne hätte ich die junge Frau noch angesprochen, in diesem Moment fährt mein Zug ein.

Amo los pájaros perdidos que vuelven desde el más alla, a confundirse con un cielo que nunca más podre recuperar. Vuelven de nuevo los recuerdos, las horas jóvenes que di y desde el mar llega un fantasma hecho de cosas que amé y perdí. Todo fue un sueño, un sueño que perdimos, como perdimos los pájaros y el mar (Astor Piazzolla)

Los pajaros perdidos (Komponist: Astor Piazzola; leitende Ausführende Christina Pluhar)

 

Frau Krautundrübe

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