Der Blick aus dem Fenster heute am Morgen ließ keinen Zweifel offen, dass ich trotz wolkenverhangenem Himmel und leichtem „Oracheln“ (Diesen Begriff verwendete meine verstorbene Großmutter, wenn es leicht und unproduktiv schneite.) meine Bergschuhe aus dem Keller holte, um eine Wanderung auf meinen Hausberg zu machen. Nachdem es seit langem und nach meiner Corona-Infektion meine erste sportliche Betätigung werden würde, wollte ich es zunächst gemütlich angehen. Ich gönnte mir ein reichliches Frühstück mit einer Tasse Filterkaffee und einem weichen Ei, dazu ein Bauernbrot mit Aufstrich und Keimlingen bestreut. Die Tageszeitung war voll mit dem Kriegswahnsinn aus der Ukraine und den heutigen Lockerungen bei täglichen 30.000 bis 40.000 Neuinfektionen. Die Maskenpflicht fällt soweit (außer in den Lebensmittelgeschäften, Öffis, und Krankenhäusern), die frühe Sperrstunde in den Lokalen wird aufgehoben und die Nachtgastronomie öffnet nach zwei Jahren Pause wieder. Nachdem diese Virusvariante einen durchwegs milden Verlauf zeigt, kann man die Öffnungsschritte hoffentlich riskieren. Polternde Geräusche aus der Vorhalle störten meine Zeitungslektüre. Pubertier Kind 3 mit Freund V. führten ihre morgendlichen Trainingseinheiten in unserem Vorraum aus, indem der Basketballständer mit Korb wegen der Kälte ins Innere verlegt wurde. Die Trainingseinheit bestand aus Sprungübungen, Dunken und Layups. Obwohl ich Sport bei Jugendlichen immer unterstütze, hielt sich diesmal meine Freude in Grenzen. Etwas mürrisch suchte ich mir meine Bergklamotten zusammen, zum Teekochen nahm ich mir keine Zeit, Wasser sollte für die Tour reichen, aber ich entschied mich aufgrund der Pulskontrolle nach meiner langen Sportpause für meine Sportuhr.
Mein Verhältnis zu Sportuhren ist schwierig. Sobald ich die Uhr an meinem Handgelenk spüre, übernimmt sie die Kontrolle. Sie macht mich zur Streberin, zum Ehrgeizling, andererseits zeigt sie mir auf, dass ich alt bin und nicht mehr besser werde. Der erste Weg nach einer Tour ist zum PC, um meine Daten von der Sportuhr herunter zu laden. Das Benennen der Tour mit einer originellen Bezeichnung ist dabei das einzig Erfreuliche. Meist teilt mir meine Uhr mit, an welchem Tag ich viel besser war, oder dass die Tour zu anstrengend für mich, mein Alter und meinen körperlichen Zustand war. Heute versuchte ich einen unemotionalen, friedlichen Zugang zu meiner Uhr zu finden. Der Puls bei Tourstart war mehr als in Ordnung, vielleicht würden wir ja noch Freundinnen werden.
Warum ich diese Tour so sehr mag, liegt sicher daran, dass die Tour kurz, intensiv und meist menschenleer ist. Ich startete motiviert los, musste allerdings nach hundert Metern bereits unterbrechen, da die Nachbarshühner ihr für sie vorgesehenes Revier durchbrochen hatten und frei auf der Straße herumliefen. Nachdem die Hühner eingefangen waren, ging es weiter. Der Weg war gesäumt von Leberblümchen und vereinzelt Seidelbast, dazu kam der gelb blühende Huflattich. Die Pulskontrolle funktionierte, aber ich blieb doch vorsichtig mit dem Tempo. Ungefähr im ersten Drittel des Aufstiegs hatte ich eine interessante Begegnung mit einem Burschen, der mir entgegen kam. Er trug eine leuchtend orange Mütze und einen Umhang aus braunem Schaffell, sowas wie eine Pyjamahose und er war barfuß. Er trippelte mir entgegen. Es stellte sich heraus, dass er die vielen spitzen Steine am Weg unterschätzte und sich fürchterlich plagte. Ich checkte noch seine Füße ab, aber seine wachen braunen Augen und seine Jugend sagten mir, dass er sein Abenteuer gut schaffen würde (Das bewohnte Gebiet war ca. eine halbe Stunde entfernt). Ich ging konzentriert bis zum Gipfelkreuz weiter und hing meinen Gedanken nach.
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Da Pubertier Kind 3 auch nach meiner Rückkehr von der Wanderung mit Basketball beschäftigt war, beschlossen Herr Krautundrübe und ich einen Stadtbummel zu machen. Es war kalt und ungemütlich. Ab und an sah man Leute unter rot leuchtenden Heizlampen (die übrigens einen sehr schlechten ökologischen Fußabdruck aufweisen) im Freien. Wir passierten „Die Hummel„, ein neu eröffnetes Lokal mit levantinischen Spezialitäten. Mit großem Bedauern musste ich die Einladung zum Brunchen anlässlich der Eröffnung wegen meiner Corona-Infektion vor zwei Wochen absagen. Das Lokal liegt sehr gut, war gut beworben, sodass spontan nicht an einen freien Tisch zu denken war. Frierend gingen wir weiter zum Kunsthaus-Cafe, wo wir einen mittelmäßig guten Platz zugeordnet bekamen (Ich hatte Kreuzweh vom Gehen und wollte mich an einen Sessel lehnen) eigentlich wollte ich mich mit Kaffee und Kuchen an der Kuchenbar bedienen. Herr Krautundrübe entdeckte schließlich auf der neu sortierten Speisekarte sehr gute Vorspeisengerichte, die ausgezeichnet schmeckten. Zum Abschluss nahmen wir noch einen Prosecco-Aperol und verließen das gut besuchte Kunsthaus-Cafe. Die Straßen waren für einen Samstagabend relativ leer. So ganz mag sich der Alles-Öffnen-Modus der Regierung allgemein noch nicht bemerkbar machen.
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Mit der Öffnung startet auch die Konzertsaison wieder durch. Herr Krautundrübe machte mich auf ein Youtube-„Preprint“ einer für den 1. April geplanten CD-Präsentation unserer Lieblingssängerin Tina Dico aufmerksam. Tina Dico ist Dänin und lebt mit ihrem Mann, Helgi Jónsson in Island, wo sie auch gemeinsam Musik machen.
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Frau Krautundrübe