Nach einer ausgesprochen schlechten Nacht mit sehr wenig Schlaf gebe ich kurz vor 5 Uhr morgens auf und stehe auf. Das Gedankenkarussell setzt bereits um 2 Uhr morgens ein. Es sind keine schweren Gedanken, vielmehr überlege ich, ob ich am Samstag den Friseur aufsuchen soll, ob und wann die geernteten Aroniabeeren zu Sirup, Saft oder Gelee verarbeitet werden sollen, ob ich die schwarze Hose oder doch das graue Kleid anziehe und, dass in der Stadt geschlossene Schuhe besser sind als Sandalen. Dann überlege ich, ob ich frühmorgens, vor meinem Aufbruch noch den Geschirrspüler ausräume, da ich erst spätabends nach Hause kommen werde und einen Berg schmutziges Geschirr vorfinden werde, die der Pubertier gerade noch in den Geschirrspüler wird einräumen wollen oder besser vorhaben wird, einzuräumen, als ich plötzlich und überraschend schon in der Türe stehe.
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Ich stehe also kurz vor 5 Uhr im Morgengrauen auf, eine halbe Stunde vor dem geplanten Weckerläuten. Ich entscheide mich für schwarze, lange Hosen und geschlossene Schuhe, da in Wien zwar hochsommerliche Temperaturen angesagt sind, ich aber den ganzen Tag auf der Straße, irgendwo herumsitzend verbringen werde. Dafür verzichte ich auf eine Jacke und nehme nur eine Regenjacke mit, die in die linke Seitentasche gestopft und mit einem Reißverschluss verschlossen ein 7×4 cm großes Bündelchen ergibt, das sich leicht in meine Bag bag verstauen lässt. Ich radle zum Bahnhof bei kühler Luft, ich vermisse eine Jacke. Im wenig besetzten Zug kriecht die Müdigkeit in mir hoch, der Schlaf will aber nicht kommen, da es kalt ist und ich zuviel mit Gedanken beschäftigt bin, ob ich auch alle Unterlagen von allen Studis inklusive meine eigenen Formulare mithabe. Zwischendurch bestaune ich die Landschaft, die sich im Spiel aufgehende Sonne, Morgennebel und viel Grün an Fotomotiven selbst übertrifft.
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In Wien angekommen weiß ich bereits genau welche Öffis mich zum Visa-for-Turkey-Büro im 17. Wiener Bezirk führen. Es sind diesmal wesentlich mehr Antragsteller, hauptsächlich Männer. Bemerkenswerterweise wird in dieser Agentur – Authorized Visa Application Office for Türkiye in Austria – nur Deutsch gesprochen, da die Männer hinter dem Pult nämlich nur Arabisch sprechen, wie ich herausfinde und was mich sehr verwundert. Bemerkenswerterweise überlässt man dieser Agentur – sie wird als Privatfirma geführt – auch seine gesamten Daten, was für mich persönlich kein großes Problem darstellt, da ich ohnehin davon ausgehe, dass man leicht zu Daten kommen kann, wenn man möchte, aber für die, die sehr heikel mit ihrer Datenfreigabe sind, könnte das Protest auslösen. Jedenfalls bin ich sehr bald an der Reihe. Der bezopfte, arabisch sprechende Mann mit dem breiten Grinser nimmt wie gewohnt meine Daten auf und übergibt mir das Formular mit dem ich zum türkischen Konsulat in die Hietzinger Hauptstraße gehen muss. Als ich jedoch die restlichen Pässe und Formulare meiner Studis vorlege, um auch für sie das Forschungsvisum zu erhalten, lehnt er ab mit der Begründung, dass sie persönlich in der Agentur erscheinen müssen. Meine Einwände, dass das noch nie ein Problem war, für andere Studierende das Visum mitzunehmen, da wir immerhin eine Anreise vor uns haben, ignoriert er breit grinsend. Ich will ihn mit Blicken hart treffen, er grinst weiter und wiederholt, dass mein Antrag fertig ist. In diesem Moment betritt meine Wiener Kollegin die Agenturräumlichkeiten, um ihr Visum ausstellen zu lassen. Da ich ohnehin 5 Stunden warten muss, bis mir das türkische Konsulat Einlass gewährt, bleibe ich bei meiner Kollegin. Der grinsende Araber lässt uns – wohl zur Strafe – eineinhalb Stunden dort sitzen auf ungemütlichen Metallstühlen bei viel zu kühler Aircondition.
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Den dringend notwendigen Cappuccino holen wir am Johann-Nepomuk-Vogl Platz unweit der Agentur im 18. Wiener Bezirk Währing nach. Wir sind begeistert von den netten Lokalen und dem Leben auf diesem Platz. Eine Gruppe mit kleinen Kita-Kindern erfrischt sich an den Wasserfontänen, eine Jung-Familie bereitet am Platz das Geburtstagsfest ihres Kindes vor, indem Elefanten und Luftballons aufgeblasen werden, sowie eine Happy Birthday Girlande aufgehängt wird. Das am Nebentisch sitzende Pärchen erhebt sich schließlich um an einem der fixen Tischtennisplätze am Platz Tischtennis zu spielen. Die nette Kellnerin erzählt uns, dass der Platz 2020 neu gestaltet wurde, wo auch sehr viele Anrainer*innen eingebunden waren. Als wir ihr auf Nachfrage erzählen, dass wir von der Visaagentur kommen, bringt sie uns einen türkischen Cay sowie Baklava aufs Haus, was wir ausgesprochen nett finden.
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Wir machen uns auf den Weg nach Wien-Hietzing. Ganz gelingt es uns nicht den großen Touristenschwärmen zu entkommen. Es ist immerhin ein wunderbarer Tag mit blauem Fotohimmel, außerdem nicht zu heiß. Die Ausstellung des Visums bei den Türken im Konsulat verläuft problemlos. Nach einigen Teşekkürler und Görüşürüz noch ein abschließender Cappuccino bei Mario in Hietzing und anschließend mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof nach Wien-Meidling, wo mich die wartende Menschenmenge auf den Zug nach Graz schreckt, ich aber in dem langen Zug aus Prag kommend einen hervorragenden Platz erwische. Ich werde wieder wach, als sich der Zug langsam auf den Semmering kämpft. Sattes Grün soweit das Auge reicht! Entlang der Semmeringstrecke, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, stehen noch einige Bahnwärterhäuschen, die – wohl von Eisenbahnliebhabern – zu Wochenendresidenzen umgebaut wurden. Versteckt in den Wäldern auf teils steilen Abhängen sieht man die charakteristischen Sommerfrischehäuser, die als Folge der Bahneröffnung im Jahr 1854 dort boomten.
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Heute erwartet mich nur meine Katze zu Hause, da alle ausgeflogen sind. Ich hauskrame noch, räume zum Beispiel noch den Geschirrspüler aus und versenke die wenigen herumstehenden Teller und Gläser, da der Pubertier offenbar auswärts gegessen hat. Ich bestaune den vielfarbigen Himmel, erfreue mich weniger an den vielen Mücken und beschließe sogleich mich ins Bettchen zu begeben.
Frau Krautundrübe