Alles nicht so ‚deep‘

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Ich wache seit jüngster Zeit sehr früh auf. Das mag durchaus an der unterschiedlichen Intonation der Hustenanfälle rund um mich liegen, aber ich fühle mich – so wie heute um halb 5 Uhr morgens – hellwach. Ich drapiere vorsorglich mein Gewand am Vortag im Badezimmer auf einem Kleiderständer, damit ich mich ungestört auf den neuen Tag einstellen kann. Beim Duschen ist mir allerdings das warme Wasser zu warm und macht mich wieder schläfrig, für kaltes Wasser bin ich noch nicht bereit. Es ist noch stockdunkel, ich gehe in den Garten, eiskalte Luft erfrischt mich, ich suche im Kräuterbeet nach den Salbei- und Thymianstöcken, die noch unter einer leicht angefrorenen Schneeschicht liegen und zupfe die verbliebenen Blätter ab, um einen Hustentee für Herrn Krautundrübe zuzubereiten. Ich hole noch die Zeitung aus dem Postfach, wobei ich auf dem vereisten Weg achtgebe, nicht auszurutschen. Bevor ich den Pubertier aufwecke, geht sich noch eine Runde Duolingo aus. Ich erfahre sogleich vom lustigen grünen Männchen, dass ich den Day Streak 76 erreicht habe, bei einer Total XP von 27978 Punkten. Die Diamond League werde ich wohl nächste Woche wieder verlassen, da ich ohne Superduolingo – dafür müsste man zahlen – mit schleppenden 15 Punkten pro Einheit kaum eine Chance habe, in der Diamond League zu bleiben, ohne mehrere Stunden für die Sprachübungen aufzuwenden.

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Der Pubertier und ich fahren bei aufregender Wolkenstimmung los. Wir reden wenig bis gar nichts. Für ein Gespräch mit dem Pubertier ist es auch für mich noch zu früh. Ich lasse ihn bei seiner Schule raus und sehe, wie er mit anderen Schlurfenden in die Schule schlurft. Bei der Arbeit ist es erfreulich ruhig. Ich nehme einen Auswärtstermin wahr, der wegen hundertprozentiger gegenseitiger Übereinstimmung schnell erledigt ist. Am Rückweg in mein Büro nütze ich noch die Gelegenheit, mir den Abbruch der Vorklinik am Uni-Campus anzusehen. Ich gehe auf die dafür errichtete Aussichtsplattform, von wo man das Baustellenareal gut überblickt. Im Vergleich zum neuen Medizin-Campus erscheint die alte Vorklinik, wo ein Center of Physics errichtet werden soll, klein. Ich habe Lust auf Glühwein, allerdings haben die Stände noch geschlossen. Es beginnt zu regnen und ich verschiebe die Idee, am Abend in good company Glühwein zu trinken.

Abriss der Uni-Vorklinik

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Mein Leben mit dem Pubertier verläuft sehr oft in Richtung gegenseitiges Unverständnis. Wir reden nicht viel, wenn ich den Versuch starte, ein Gespräch zu führen, ernte ich knappe Antworten. Ich lasse mich nicht so schnell abwimmeln und bleibe dran, was der Pubertier sofort durchschaut. Er wirft mir ein gespielt empörtes Es-ist-doch-alles-nicht-so-deep hin, worauf ich antworte, dass es für mich möglicherweise ‚deep‘ sein könnte, wenn ich mehr wissen würde, aber er schweigt sich beharrlich aus und wiederholt lapidar, aber eindringlich, dass ich nerve. Obwohl ich prinzipiell natürlich nicht nerven möchte, lässt mich dieser Vorwurf relativ unbeeindruckt. Ich erkläre dem Pubertier, dass ich nerven muss und dass ich möglicherweise auch richtig liege, wenn ich nerve, da ich ihn mit meinem Nerven offensichtlich treffe und berühre. Als Antwort erhalte ich ein wiederholtes Warum-nervst-du-bloß-so-wo-doch-alles-nicht-so-deep-ist. Jedenfalls ist morgen Schulschitag und der Pubertier sucht seine Schiausrüstung, die ich in Rekordzeit finde. Das ist nicht selbstverständlich, da ich um diese Zeit noch nicht auf Wintersport eingestellt bin und überrascht mich selbst. Ich ernte Anerkennung , wobei der Pubertier allerdings noch nach einer Schaufel und dem Lawinenairbag sucht, den ich erst herausrücke, wenn ich weiß, was er plant. In der Gewissheit wiederholt zu nerven, frage ich den Pubertier, wofür er eine Schaufel und Lawinenairbag am Schulschitag benötigt, was mir eine Rüge von Herrn Krautundrübe einbringt, der meint, dass ich zu viele Fragen stelle und wohl deshalb nerve und so zu einem NPC werde. Ach ja fix, das ist doch alles nicht so deep!

(Die Jugendwörter 2023 sind in Deutschland und der Schweiz „goofy“, ein alberner Mensch (?) und in Österreich „Brakka“, das steht für eine Hose.)

 

Frau Krautundrübe

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