Meine Arbeitslust ist an diesem Montag enden wollend. Nach einer wirklich schlechten Nacht wegen dem zu reichlichen Genuss von Grillfleisch während einer prognostizierten Tropennacht stehe ich am einigermaßen kühlen Morgen schwer auf. Der Pubertier ist bereits im Ferienmodus und trödelt, ich fühle mich wie gerädert. Es scheint jeden Moment zu regnen. Nach den heißen Tagen kündigt sich wieder eine Kaltfront an. Ich schnappe mir vorsorglich meine Regenjacke und den Regenschirm, den ich bereits am Fußmarsch zur Uni benötige. Im Büro lese ich über Marine Le Pens Erfolg für ihre RN und nehme es relativ emotionslos zur Kenntnis. Ich sehe bemitleidenswerte Fotos von Biden und lese eine Analyse, weshalb Trump wohl der nächste Präsident Amerikas sein wird, was ich auch relativ emotionslos zur Kenntnis nehme, weil es zu erwarten war. Ich rufe die Website der Salzburger Festspiele auf und orientiere mich nach den noch verfügbaren Tickets, kann mich aber nicht wirklich entscheiden, womit ich den Herrn Krautundrübe überraschen könnte. Mit Bedauern nehme ich zur Kenntnis, dass der Kultursommer Wien nur bis 11. August anberaumt ist, was sich nicht mit meinem Zeitplan deckt. Ich verschiebe meine Suche auf die nächsten Tage.
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Ich nehme mir die 25 Minuten Zeit, um den Bachmannpreis-prämierten Text von Tijan Sila, Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde zu lesen. Es geht um die autobiographisch unterlegte Sichtweise des Verfassers, der mit seinen Eltern Anfang der 1990er Jahre im Zuge des Jugoslawienkrieges von Bosnien nach Deutschland flüchtete. Beide Eltern sind Akademiker, können sich aber in Deutschland nicht verwirklichen und sind arbeitslos. Der Ich-Erzähler ist Lehrer, offenbar längst ausgezogen und gerade auf Besuch bei den Eltern. Es folgt die Darstellung der stark verwirrten Mutter und der eigentümlichen Hobbys des Vaters. Der Text inklusive der beinahe lapidar anmutenden Sprache mit sehr einfachen, pointierten Dialogen mag nichts Überragendes haben, wie im Anschluss an die Preisverleihung auch in den Medien angemerkt wird. Mich erstaunt die Stimmung, die der Ich-Erzähler erzeugt, die man gut nachvollziehen kann, einerseits ruhig und traurig, andererseits aufgewühlt und überstürzt. Seine Welt scheint in Ordnung zu sein, er besucht die Eltern, mit denen es allgemein übliche Querelen über Berufswahl und dergleichen gibt, um einen nicht näher genannten Anlass zu feiern, demnach war die Ausgangslage positiv. Es kommt für ihn anders. Nach offenbar vielen Jahren sind die Kriegstraumata jedes einzelnen Familienmitglieds nicht überwunden und verbindend trennend.
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Die anderen Texte habe ich noch nicht gelesen, weswegen ich auch nicht beurteilen kann, ob es der „beste“ Text des Bachmannpreis-Vorlesens ist. Wobei, geht es darum? Fein ist, dass deutschsprachige Literatur durch derartige Veranstaltungen im Gespräch bleibt. Der Vorsitzende der Juror:innen, Klaus Kastberger, gibt in folgendem Interview Einblick über die Auswahl der Texte und die Hintergründe der Jury, die in Klagenfurt bemüht ist, besonders objektiv zu sein: Der Standard, 26. Juni 2024
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Ich fahre in die Wohnung der urlaubenden Krautundrüben-Eltern, um das Wasser für die automatische Blumengießanlage nachzufüllen. Die Wohnung strömt trotz der langen menschlichen Abwesenheiten einen angenehmen Duft aus. Ich öffne die Fenster und die Türe zum Balkon, entdecke eine Orchidee, die ich bislang noch nicht gegossen habe. Beim Gießen fallen die Blüten ab, die sich solange selbst gestützt haben. Ich blicke zu einem entfernten Hochhaus, das leer steht, und erspähe noch das ehemalige Wohnzimmerfenster meiner Kindheitsfreundin. Ich lasse das Wasser noch aus der Leitung rinnen bis es angenehm kalt ist, nehme mir das Glas von meinem letzten Blumengießbesuch aus der Spüle, lass das Wasser über den Glasrand laufen, sodass es meine Hände benetzt, balanciere das volle Glas zu meinem Mund, ohne mich anzuschütten, und trinke das Wasser in einem Zug aus. Passt!
Frau Krautundrübe