Die vergangenen Tage sind auf den Tag meiner Abreise ausgerichtet. Die Rituale werden trotz aussichtsloser Arbeitsüberhäufung eingehalten. Nach geputztem Haus, mit Glanz versehenen Schuhen und gewaschenen Haaren wurde der Koffer bis kurz vor der Abfahrt mehrmals aus- und wieder eingräumt. Als letzter Akt – bevor das Krautundrüben-Kind und Herr Krautundrübe geherzt und gedrückt werden, sich nochmals versichernd, dass man nicht weiß, wie man es in den nächsten Tagen ohneeinander schaffen wird – wird der Koffer feierlich geschlossen und mit einem Prickeln in der Bauchgrube die Fahrt zum Provinzflughafen angetreten. Der Vorteil des kleinen Provinzflughafens ist, dass man nicht mit stundenlangen Warteschlangen, gelenkt durch labyrinthartig, mäandrierende schmale Gänge, die durch breite Bänder begrenzt werden und von fuchtelnden Wächtern bewacht sind, befasst ist, sondern man fühlt sich fast persönlich betreut. Nachdem ich außer wenigen Herren die einzige bei der Kofferabgabe bin, werde ich mit einem herzlichen „Guten Morgen“ begrüßt. Die nette Dame bestätigt mir in einem freudigen Tonfall, dass der Koffer bis zur Enddestination durchgecheckt ist. Bei der Sicherheitskontrolle nimmt eine Sicherheitsbeamtin ihren Job ebenfalls sehr genau. Als sie die Handgepäckskoffer zweier junger Männer untersucht, habe ich Zeit festzustellen, dass sie in meinen Augen eine ältere Dame ist, wobei sie durchaus jünger sein kann als ich, da ich Personen, die in meinem Alter sind, oft für 10 Jahre älter halte und Menschen, von denen ich annehme, dass sie in meinem Alter sind, oft viel jünger sind. Die Sicherheitsfrau findet im Handgepäckskoffer des jungen Mannes sogleich ein Deodorant und eine Dose Haargel, die sie aussondert, weil sie die 100 ml Grenze für erlaubte Flüssigkeiten an Bord eines Fliegers übersteigen. Ich erkenne an seinem verdutzten Gesicht, dass er damit nicht gerechnet hat. Er bleibt hartnäckig und kontert, dass er das Deodorant bereits auf einem anderen Flughafen erstanden hat. Ich beobachte dabei geduldig die beiden tätowierten Arme der Sicherheitsfrau. Auf beiden Unterarmen winden sich Schlangen und in sich verschlungene Linien. Ich will eigentlich darüber nachdenken, was die Frau wohl veranlasst hat, sich zu tätowieren und welche Auswirkungen die Tatoos auf ihre Wirkung auf mich haben (ich bin da nämlich sehr streng), werde aber abgelenkt, da die Sicherheitsbedienstete dem jungen Mann sehr freundlich aber eindringlich erklärt, dass es einerlei sei, ob der Inhalt auch tatsächlich noch 150 ml fasst, da es einzig darum geht, was auf der Verpackung steht. Leichte Ungeduld meldet sich bei mir, als der zweite Mann mit derselben Beflissenheit untersucht wird. Schließlich bekomme ich endlich die grauen Schuberkisten, wo ich meinen Laptop, Tasche, Boardingcard und Jacke hineingebe. Ich gehe durch die Sicherheitsschranke, überlege kurz, ob ich stehenbleiben muss, als mir die zweite Sicherheitsfrau ein rüdes „Weitergehen“ entgegenschmettert. Ich gehe zum angeführten Gate (es gibt nur 10 Gates), setze mich und langweilige mich auch schon. Da ich aus Erfahrung weiß, dass ich unter diesen Umständen zu ungeduldig zum Lesen bin, habe ich auch kein Buch in meiner Tasche. Die Männer um mich sitzen an ihren elektronischen Geräten, ein Mann im Geschäftsmannoutfit telefoniert lautstark, damit auch jeder weiß, dass er wirklich ein Geschäftsmann ist und schließt mit den Worten „.. fokussieren…. Projekt“, genau die Worte, die man sich von ihm erwarten würde. Schließlich beginnt das Boarding. Unabsichtlich habe ich mir einen Buisiness-Class Flug gebucht, womit ich in der 3. Reihe eines recht kleinen Flugzeuges zu sitzen komme. Nach wenigen Minuten wird mir zu meiner Überraschung ein Frühstück serviert, dass ich nach wenigen weiteren Minuten dankend zurückschicke, da der Flug in 35 Minuten enden würde und ich lieber die Berge von oben ansehe.
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Die gemütliche Reise endet jäh, als wir landen. Ein Riesenflughafen mit Terminalwechsel, vielen Passkontrollen, Laufbändern und Duty Frees. Ich mache es mir wieder am für den Flug angeführten Gate bequem, es soll mehrere Stunden in südliche Richtung gehen. Als ich gerade wieder feststelle, dass mir langweilig wird, bleiben meine Augen bei einer sich mir nähernden Frau und zwei Männern mit ausreichend Taschen im Schlepptau hängen. Die Frau watschelt ob ihres Körpervolumens in meine Richtung. Sie ist in eine Bluse und langen Rock mit einem sehr kreativen Mustermix gekleidet, ihre dicken angeschwollenen Beine stecken in Hausschuhen und auf dem Kopf trägt sie ein Kopftuch mit auf die Stirn fallenden sehr grazilen Quasten und am Hinterkopf geknotet. Als sie sich unmittelbar neben mir geräuschvoll in den Sitz fallen lässt, bemerke ich auch ihr sehr stattliches Hinterteil. Sie gestikuliert wild und schickt den älteren, etwas schmächtigen Mann wieder weg. Ich vermute, dass sie sich nicht sicher ist, ob sie am richtigen Gate wartet. Jedenfalls wendet sie sich sogleich mir zu und fragt sehr laut – wirklich sehr laut – etwas, wahrscheinlich ob ich weiß, ob sie am richtigen Gate ist. Ich wende mich ihr zu und sehe einen fast zahnlosen Mund, zumindest am Oberkiefer, wo nur mehr drei sehr große Backen- und Schneidezähne zu sehen sind. Sie redet unaufhörlich mit mir, so laut, dass auch andere Menschen aufmerksam werden. Ich merke, dass ich etwas sagen muss und krame in den letzten Winkeln meines Gehirns, die für das Spracherinnerungszentrum zuständig sein könnten, nach Worten. Langsam bastle ich mir ein paar Sätze in ihrer Sprache zusammen, sie redet unaufhörlich weiter. Ich entgegne ihr in ihrer Sprache, dass ich sie nur wenig verstehe und die Sprache nicht gut spreche, woraufhin sie mir ihr schönstes Lächeln schenkt, mich begeistert umarmt und ausruft „Ah bir türk kadını!“ Mein schon erwärmtes, aber noch trübes Reiseherz macht einen Freudensprung direkt in ein Glutherz, bevor ich mich wieder aus der Umarmung löse.
Frau Krautundrübe