Meine Leselust kann ich derzeit voll ausleben. Während einige Menschen in bequemen Campingstühlen mit hoher Lehne und zusätzlichen Teilen für die Beinablage lesend vor oder in ihren mondänen, vollklimatisierten Wohnmobilen sitzen, überrascht mich Herr Krautundrübe mit einem neuen Sonnenschirm und einem blauen Strandstuhl. Es ist ein niedriger Klappstuhl, wo man eigentlich ganz nah am Sand sitzt mit angewinkelten Beinen. Ich bin eigentlich froh, dass ich nicht mehr im heißen Sand liegen muss und in der Sitzposition lässt es sich außerdem wunderbar Lesen.
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Ich habe vorsorglich viele Bücher eingepackt, damit mir der Lesestoff nicht ausgeht. Ab und zu gibt es auf Campingplätzen eine „Bibliothek“ in einer Ecke der Rezeption oder im Aufenthaltsbereich bestehend aus stark abgegriffenen Taschenbüchern mit Liebesgeschichten, Krimis oder Action- und Science-Fiction-Storys. Das ist eine Art von Trivialliteratur, die man als Groschenromane im Bastei-Verlag noch aus der Kindheit kennt. Darauf möchte ich diesmal nicht angewiesen sein, stapeln sich in meinem Bücherregal doch viele ungelesene Bücher.
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Zuallererst nehme ich mir vor, Moin Cherie und unsere demolierten Seelen von Verena Rossbacher endgültig auszulesen. Ich finde mich schnell wieder in die Geschichte der Hauptfiguren Charly Benz und Herr Schabowski ein und lese die fast 400 Seiten schnell aus. Der originelle erste Teil mit den Marotten von Charly Benz, allen voran ihre Post-Angst, die sie auch zu Herrn Schabowski führt, ihre zynische und selbstironische Lebenshaltung, aber auch das Verlorenseinwollen und die komplizierten Partnerschaften und Familienverhältnisse verläuft bis zur Mitte sehr gelungen. In der Haut der Protagonistin Charly Benz möchte man nicht stecken, auch wenn ihre Selbstbeschreibungen ein gewisses Maß an Augenzwinkern und Ironie nicht vermissen lassen. Das ändert sich leider im zweiten Teil, wo die Handlung zu einer Wohlfühlstory mutiert. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen, weil ich zwischendurch durchaus Wohlfühlstorys mag. Trotzdem frage ich mich, ob die Autorin Verena Rossbacher von niemandem aufmerksam gemacht wurde, dass der Flow der Story, der Stil, die Figuren einfach nicht stringent sind?
Fazit: Das Buch hat mir sehr gut gefallen, es hat durchaus Längen und Brüche, aber auch sehr gelungene Sequenzen wie die Figur des Herrn Schabowski und das Intermezzo mit Peter Handke.
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Während Moin Cherie ein Geschenk von Herrn Krautundrübe ist, resultierend aus einem aufschlussreichen Bericht in einer Literatursendung auf Ö1, wähle ich als nächstes Buch Iowa von Stefanie Sargnagel. Ein Buch, das ich mir im Winter selbst gekauft habe, weil es sehr beworben war und mit 300 Seiten dünn ist. Ich habe mich mit Stefanie Sargnagel eigentlich davor noch nicht beschäftigt, wusste sie aber als Kolumnistin in eher aufgeschlossenen, linksliberalen Medien verankert. Es geht jedenfalls um Stefanie Sargnagel selbst, die an einer Privatuni einen Lehrauftrag für sechs Monate für kreatives Schreiben in der 8.000 Einwohnerstadt Grinnell im US-Bundesstaat Iowa erhält. Begleitet wird sie von Christiane Rösinger, einer ehemaligen Sängerin in einer Punkband in Berlin, die aber mittlerweile die 60 Jahre überschritten hat und eine gewisse Lebenserfahrung in das Geschehen einbringt. Das Amerikabild, das Stefanie Sargnagel wahrscheinlich sehr treffend beschreibt und von vielen Kritiker*innen meiner Meinung nach überbewertet wird in diesem Buch, ist für mich, vielleicht weil mich das Amerikabild der Stefanie Sargnagel so gar nicht überrascht, nicht ganz so wichtig. Es ist eher wie die Amarenakirsche, die den Coupe Danmark Eisbecher ziert oder die Tomate bei der Salatgarnitur. Die eigentliche Handlung passiert für mich zwischen Stefanie Sargnagel und Christiane Rösinger, den beiden Frauen, die mehr als 20 Jahre voneinander trennen. Die Dialoge sind natürlich vordergründig witzig und lustig, aber trotzdem ganz zart und behutsam in die Tiefe gehend.
Fazit: Ich muss nicht unbedingt nach Iowa, aber unbedingt mehr von Stefanie Sargnagel lesen!
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Das nächste Buch von Clemens J. Setz, Monde vor der Landung, ist ein Geschenk der Krautundrüben-Mutter. Ich habe bislang kein Buch von Clemens J. Setz gelesen, weshalb ich besonders neugierig auf den über 500 Seiten schweren ‚Ziegel‘ bin. Es geht um die Lebensgeschichte von Peter Bender, der Ende des 19. Jahrhunderts geboren ein Verfechter der Hohlwelttheorie war. Demnach würden wir auf der Innenseite der hohlen Erde leben und die Sonne und die Planeten befinden sich im Inneren der Kugel, auch Innenweltkosmos genannt. Diese Theorie fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Amerikaner Cyrus Reed Teed Aufmerksamkeit. Peter Bender fühlte sich der Theorie jedenfalls sehr verbunden. Nach einem Fliegerabsturz im 1. Weltkrieg lernte er im Lazarett seine zukünftige Frau Charlotte Asch kennen, die aus einer jüdischen Apothekerfamilie stammt und seine Theorien unterstützt. Sie bauen sich in Worms eine Existenz auf, Bender gründet eine Religionsgemeinschaft unter dem Namen ‚Wormser Menschengemeinde‘, die eher wirre Ideen vertritt. Er wird schließlich wegen Gotteslästerung verurteilt und kommt für ein paar Monate ins Gefängnis, was ihn aber nicht abhält, nach der Freilassung weiter seine Theorien zu verfolgen und Anhänger zu finden. Für seine Frau Charlotte wird es im Zuge des zunehmenden Antisemitismus als Jüdin immer schwieriger. Beide sind schließlich Opfer des Nationalsozialismus und sterben in den Konzentrationslagern Mauthausen und Auschwitz.
Fazit: Das Buch ist ein Highlight. Es ist in der Art der ‚großen Romane‘ von John Irving oder T.C. Boyle geschrieben, ohne aber ins Amerikanische zu verfallen. Das Buch beeindruckt, da es sehr gut recherchiert ist, sehr arbeitsintensiv rüberkommt. Der außergewöhnliche Peter Bender würde heute in die Kategorie der ‚hoffnungslosen Schwurbler‘ fallen, er ist absolut kein Sympathieträger und trotzdem will man an der Geschichte dranbleiben, was Clemens J. Setz bestens gelungen ist. Clemens J. Setz fällt jedenfalls in die Kategorie ‚Ich-will-alles-von-Clemens J. Setz-lesen‘. Großartiges Buch!
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Das letzte Buch, das ich noch lese, ist von Tonio Schachinger Echtzeitalter, ebenfalls ein Geschenk. Als mit dem deutschen Buchpreis 2023 und Roman des Jahres 2023 ausgezeichnet stand das Buch wohl lange sehr repräsentativ in sämtlichen Bestseller-Regalen der bekannten Buchläden. Es geht um eine Wiener Eliteschule, das Marianum, und den Schüler Till, einen eher unscheinbaren Jungen, der zu einem der weltbesten Gamer wird, von dem aber niemand etwas mitbekommt, was vielleicht auch die Pointe dieses Buches sein könnte. Es ist im Prinzip eine ‚Coming-of-Age‘-Geschichte der Hauptfigur Till und seiner Klassenkollegen und Klassenkolleginnen. Dazu kommen skurrile Lehrerpersönlichkeiten, nervige Mütter und erste Liebesgeschichten, alles untermalt in einem Zeitgeist-Jargon.
Fazit: Ich habe das Buch von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, wohl weil es mir pubertiermäßig vertraut ist. Ich weiß allerdings nicht, was das Buch genau will? Möchte man endlich eine angemessene deutschsprachige Schullektüre zusätzlich zur Standardlektüre wie ‚Löcher‘ und ‚Tschick‘, dann finde ich das Buch großartig. Für Erwachsene, die einen Einblick in die abgrundtiefe Seele der österreichischen Schüler*innen-Elite haben möchten, sei das Buch sehr zu empfehlen, sonst eher mittelmäßig.
Frau Krautundrübe